Exzellenz, Brillanz, Genie. Historie und Aktualität erfolgreicher Wissensfiguren

Exzellenz, Brillanz, Genie. Historie und Aktualität erfolgreicher Wissensfiguren

Organisatoren
Julia B. Köhne, Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.01.2017 - 14.01.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Marta Kuhn / Paula Hanitzsch / Jule Ulbricht, Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Diskurse über kognitive Exzellenz und akademische Begabtenförderung erfreuen sich derzeit einer Konjunktur, die sich in der ubiquitären Rede von Brillanz, Innovation und Zukunftskonzepten, in der Selbstdarstellung von Universitäten und Forschungseinrichtungen sowie in Hochschulrankings widerspiegelt. Angesichts solcher Entwicklungen scheint eine kritische Auseinandersetzung erforderlich, die sich nicht in Zukunftsprognosen erschöpft, sondern zudem historische Vorläufer ins Blickfeld rückt: insbesondere die lange und komplexe Diskurslinie der Geniefigur. Welche historischen und epistemologischen Verbindungslinien lassen sich vom disziplinenübergreifenden Geniekult um 1900 bis hin zu im heutigen akademischen Kontext omnipräsenten Wortkomposita wie ‚Eliteuniversität‘, ‚Exzellenzinitiative‘ und ‚Spitzenforschung‘ ausmachen? Und wie veränderte sich die Konfiguration Wissen, Persönlichkeit und Herausragendes sowie deren Evaluation?

Zur Behandlung dieser und weiterer Fragen nach Wortursprüngen, Konzeptionen, Symboliken, Rhetoriken und der Diskursgeschichte der Geniefiguration in unterschiedlichen Medienkontexten konzipierte und organisierte Julia B. Köhne die multidisziplinäre Tagung „Exzellenz, Brillanz, Genie. Historie und Aktualität erfolgreicher Wissensfiguren“, die am 13. und 14. Januar 2017 im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand. Eingeladen waren internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Kultur-, Literatur- und Geschichtswissenschaft, der Kunst-, Wissenschafts- und Medizingeschichte sowie der Geschlechter- und Hochschulforschung.

Entlang eines historischen Überblicks über die Differenz zwischen ‚Genie‘ und wissenschaftlichem Talent zeichnete STEFAN HORNBOSTEL (Berlin) in seinem Vortrag das Bild des ‚genialen‘ Wissenschaftlers nach. Im Zuge der wissenschaftlichen Spezialisierung im 19. Jahrhundert, so argumentierte Hornbostel diskursanalytisch, wich der Universalgelehrte als Träger des ‚Genialen‘ dem Phänomen des fachwissenschaftlichen Spezialistentums. Obwohl die Qualitätsmerkmale des ‚Genies‘ weiterhin begehrt seien und es noch immer als Referenzfigur zitiert werde, stelle es heute kein genuines Wissenschaftsobjekt mehr dar. Auch die Förderprogramme der Exzellenzinitiative böten dem ‚Individualgenie‘ keinen Raum, denn diese seien auf die Herausbildung von Leistungseliten und vergemeinschafteten Formen der Wissenserzeugung fokussiert. Der Wunsch nach einer Synthese des fragmentierten Fachwissens spiegele sich in den Forderungen nach Interdisziplinarität und in innerwissenschaftlichen Organisationsstrukturen wider, die vernetzte Arbeitsgruppen und Forscherkollektive förderten.

Die Entwicklung der universitären Organisationsstrukturen und Differenzierungsdebatten der letzten Dekaden beleuchtete auch ULRICH TEICHLER (Kassel). Der Hochschulforscher zog in seinem Vortrag eine kritische Bilanz aus der 2005 eingeführten Exzellenzinitiative, die ihr Versprechen eines Genie-Schöpfungspotentials trotz erheblicher finanzieller Förderungen nicht eingelöst habe. Mit Nachdruck wies Teichler zudem auf die Schwierigkeiten der Professorenschaft hin, die einerseits von der Außenwelt als Träger des ‚Genialen‘ wahrgenommen werde, andererseits durch innerwissenschaftliche Bewertungsparameter wie Peer-Review-Verfahren oder Zitationsindizes einem enormen Druck ausgesetzt sei. Darüber hinaus werde durch eine ansteigende Bildungsexpansion, Vermassung kognitiver Fähigkeiten und einen Mangel an Strukturen auf dem Arbeitsmarkt eine Konkurrenzsituation gefördert. In seinem ernüchternden Fazit stellte Teichler fest, dass die intrinsische Forschungsmotivation der Wissenschaftler/innen einem Akkumulationswettstreit um bewilligte Drittmittel und durchgesetzte Förderanträge gewichen sei.

MONIKA WULZ (Zürich) zeichnete die historischen Anfänge der Begabtenförderung und Wissenschaftsorganisation am Fallbeispiel des Chemikers, Philosophen und Nobelpreisträgers Wilhelm Ostwald nach. Im Rahmen des Versuchs einer umfassenden Natur- und Kulturbeschreibung mittels eines monistischen Energiebegriffs habe Ostwald eine energetische Kulturtheorie entwickelt, die Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu Begabtenförderung gewesen sei. Seinem Verständnis nach habe das Ziel des Privatstiftungswesens darin bestanden, die optimalen Entwicklungsbedingungen für die „Züchtung des Genies“ zu gewährleisten, die er im gleichnamigen Kapitel seines Werks „Der energetische Imperativ“ (1912) – auch im Hinblick auf etwaige Auswahlkriterien – thematisierte. Dabei habe das Prinzip der Energetik sowohl vorgegeben, wie die ökonomischen Mittel zur Förderung von Wissenschaft aufzuteilen seien, als auch eine Definition des Geniebegriffs geliefert, demzufolge ‚Genialität‘ an die Prämisse eines effizienten Umgangs mit geistigen Ressourcen gebunden sei.

CORNELIUS BORCK (Lübeck) stellte in seinem Vortrag die Frage, wie sich ‚neuronale Exzellenz‘ in den historischen Konfigurationen von Genialität und der Geschichte der Elitegehirnforschung darstellte. Dabei skizzierte er die diachrone Suche nach der Verbindung von kognitiven Prozessen und zerebralen Manifestationen und schlug einen Bogen von Paul Brocas Patient „Monsieur Tan“, der im 19. Jahrhundert infolge eines Schlaganfalls bzw. einer Läsion des Broca-Areals an einem Sprachverlust litt, über EEG-Experimente an Einsteins Schädel in den 1950er-Jahren bis hin zur aktuellen Rezeption des Phänomens der ‚Inselbegabung‘. Heute stelle die übersteigerte kognitive Leistung sogenannter ‚Idiots Savants‘, die in den Medien wie Schauobjekte vorgeführt würden, vielmehr einen Abgesang auf die entthronte Figur des ‚Genies‘ dar. Anhand von aktuellen Beispielen illustrierte Borck zudem, wie universitäre Exzellenzinitiativen und soziale Netzwerke für Personen mit einem hohen IQ (zum Beispiel „Mensa in Deutschland e.V.“) eine hoch aufgeladene und von Stereotypen geprägte Rhetorik der ‚Schwerstbegabung‘ förderten.

Den florierenden Geniekult im geisteswissenschaftlichen, literarischen und philosophischen Kontext um 1900 nahm JULIA B. KÖHNE (Berlin) in den Blick. In ihrem Vortrag untersuchte sie die Genese der Geniefigur als neues ‚epistemisches Objekt‘, welches in den Geisteswissenschaften und Literaturen um die Jahrhundertwende diskursiv erzeugt worden sei. Wie sie deutlich machte, verschoben sich zu jener Zeit grundlegende Variablen der Geniekonzeption im Hinblick auf Fragen der Religion, Genealogie, Nation, ‚Rasse‘ und des Geschlechts sowie moderner Wissenschaftlichkeit. In der Auseinandersetzung des Geniewissenschaftlers mit seinem Untersuchungsgegenstand sei überdies eine Abfärbungslogik des ‚Genialen‘ wirksam geworden, die sich am Streben nach wissenschaftlicher Selbstbespiegelung und -idealisierung ablesen lasse. Köhne beleuchtete ferner die semantische Potenz der rhetorischen Einkleidung etwaiger Geniefiguren, die häufig mit Licht- und Astralmetaphern, Naturbildern, aber auch Sexual- und Zeugungsmetaphern gekoppelt worden seien. Nach Walter Benjamin stellten vergeschlechtlichende Metaphern im Geniediskurs Frauen als Gebärende ‚genialer Männer‘ und den männlichen Genius als Empfangenden und Schöpfer geistiger Werke vor, in denen dieser neu geboren werde. Eine qua Reproduktionsrhetorik ermöglichte rhetorisch-semantische Inklusion des ‚Weiblichen‘ dürfe nicht darüber hinweg täuschen, dass der Genietitel und eine entkörperlichte, rein geistige Schöpferkraft Frauen auf realpolitischer Ebene abgesprochen wurden.

Eine historisch noch früher ansetzende, diachrone Betrachtung der Geniethematik nahm DARRIN MCMAHON (Hanover, New Hampshire) vor, dessen genealogischer Ansatz die mystische, quasigöttliche Dimension des Geniekults kondensierte. Am Beispiel einer Ikonographie des 18. Jahrhunderts illustrierte er, dass die Figuration des antiken genius, der einst als persönlicher Schutzgeist eines Mannes und dessen Zeugungskraft imaginiert wurde, gewissermaßen mit christlichen Engelsvorstellungen verschmolz. Hier sei die Idee einer Verbindung von ‚großen Männern‘ mit der transzendental-göttlichen Sphäre perpetuiert worden: nicht nur in Gestalt einer von außen einwirkenden und vom Individuum besitzergreifenden göttlichen Macht, sondern nunmehr auch in Form eines selbst verfügten oder verkörperten gottähnlichen Talents. Demnach habe der Geniekult trotz historischer Varianzen im Laufe der Zeit keineswegs Teile seiner auratischen oder religiösen Wirkkraft eingebüßt, sondern im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vielmehr den Status einer Personen verehrenden Ersatzreligion angenommen, die trotz warnender Gegenstimmen (zum Beispiel Edgar Zilsel, Wilhelm Lange-Eichbaum) zu politischen Legitimationszwecken instrumentalisiert wurde. Wie McMahon schließlich hervorhob, taten selbst die entmystifizierenden Bemühungen damaliger Wissenschaften der Geniereligiosität keinen Abbruch.

JOYCE E. CHAPLIN (Cambridge) hingegen transponierte den Geniebegriff in einen dezidiert säkularen Bedeutungszusammenhang, der ‚Genialität‘ mit kognitiver und intellektueller Leistungsfähigkeit identifizierte. Vor diesem Hintergrund adressierte sie die Frage nach der Existenz potentieller ‚Genies‘ im Tierreich. Anhand des Beispiels des learned pig, das aufgrund seiner scheinbaren Lese- und Rechenkünste in den 1780er-Jahren in London zu einem Spektakel wurde, illustrierte sie damalige Debatten über ‚tierische Intelligenz‘. Indes seien im von Sklaverei und Leibeigenschaft geprägten Amerika des 18. Jahrhunderts Diskussionen über ‚schwarze Genies‘ entfacht. Im Vergleich von afroamerikanischen Gelehrten und dressierten Tieren, denen menschenähnliche Fähigkeiten lediglich antrainiert worden seien, hätten Befürworter der Sklaverei die literarischen Leistungen betroffener Autorinnen und Autoren (zum Beispiel Phillis Wheatly, Francis Williams) zu degradieren versucht. Wie Chaplin betonte, sei das Geniekonzept per se problematisch gewesen, da es – ähnlich wie die rassistischen Begründungsmuster der Sklaverei – Ungleichheiten zementierte und Menschen in naturalisierte Hierarchiesysteme einordnete.

THOMAS MACHOs (Wien) Vortrag baute auf der These auf, dass der kulturen- und epochenübergreifende Glaube an die Figur des Doppelgängers eine verborgene Wurzel dessen darstelle, was Edgar Zilsel unter dem Begriff der „Geniereligion“ in seinem gleichnamigen Werk von 1918 subsumiert hatte. Die Vorstellung einer Spaltung des Bewusstseins oder Grenzüberschreitung des Selbst im Zuge des ‚genialen‘ Schaffens ließ sich nach Macho beispielsweise in Arthur Rimbauds bekannter Sentenz „Je est un autre“ wiederfinden. Wie er zudem ausführte, formierten ‚Genie‘, Martyrium und ein frühes Ableben, notfalls beschleunigt durch den Akt des Suizids, einen geniereligiösen Resonanzraum, der vor allem im Fin-de-Siècle produktiv gewesen sei und in dessen Rahmen sich auch Otto Weininger bewegt habe, der sowohl der Geniereligion als auch dem Glauben an den Doppelgänger anhing. Die enge Verwobenheit von Genie- und Doppelgängervorstellungen sei bereits zu Zeiten der Römischen Antike beobachtbar gewesen und ließe sich auf die Vorstellung vom genius zurückführen, der als persönlicher Schutzgeist und gewissermaßen als Verdoppelung eines Mannes bei seinem Eintritt ins Leben mitgeboren werde. Gleichwohl sei in zahlreichen Kulturen die Begegnung mit dem eigenen Doppelgänger als Prophezeiung des eigenen baldigen Todes imaginiert worden.

Eine andere Form von Alterität in sich selbst explorierte GERHARD SCHARBERT (Berlin) in seinem Vortrag: in Gestalt des intellektuellen Drogenkonsumenten, wie ihn Charles Baudelaire beispielhaft verkörpert habe. Scharbert zeichnete die Diskurskreuzungen zwischen Schriftgeschichte bzw. -gedächtnis, Literatur und experimenteller Psychiatrie nach, welche die Urszene einer ästhetischen Moderne im Frankreich des 19. Jahrhunderts formiert hätten und konkret in den berühmten Drogenséancen des Club des Hachichins im Pariser Hôtel Pimodan zu fassen gewesen seien. Unter Anleitung des Psychiaters Jacques-Joseph Moreau de Tour hatten dort, so Scharbert, unter anderem Baudelaire, Balzac und Nerval Selbstversuche mit Drogen durchgeführt, die in einer poetischen Artikulation wahnhafter Ich-Auflösung bzw. Selbstentfremdung mündeten. Diese Engführung zwischen Literatur und einer medizinischen Experimentalkultur habe – unter dem Druck psychiatrisch-neurologischer Beschreibungs- und Definitionsmacht – eine Diskontinuität in der Schriftgeschichte dargestellt: Die Suche nach einer drogeninduzierten Erleuchtung, der ‚Dichterwahn‘, sei von der aufstrebenden Psychiatrie als pathologisches Symptom provoziert und klassifiziert worden. Wegen der experimentellen Überschreitung der Grenze zwischen Physis und Psyche sowie der Psychiatrisierung des poetischen ‚Genies‘ seien auch Potenz und Gültigkeit ihrer Schriften zu Derealisationserfahrungen pathologisiert worden.

Ein derartiges Geniebild stand auch bei GABRIELE DIETZE (Berlin) im Fokus, die mit Blick auf den um die Jahrhundertwende aufblühenden Wahnsinn-Diskurs ein Konfliktfeld skizzierte, das die deutsche Psychiatrie in ihrer Professionalisierungsphase mit einer kleinen Gruppe junger expressionistischer Dichter verband. Während ihre als anormal empfundenen künstlerischen Leistungen im Kampf um die Deutungshoheit seitens des psychiatrischen Diskurses meist pathologisiert und somit abqualifiziert worden seien, hätten die literarisch-künstlerischen Avantgarden im Zeichen eines ‚epistemischen Ungehorsams‘ eine bewusst affirmative Beziehung zum Wahnsinn gepflegt. Wie Dietze zeigte, fand dieses vielfach aus antisemitischen Gründen ausgeschlossene Kollektiv in den skandalisierten Stilrichtungen der Moderne neue Modi des Gefühlsausdrucks, um seiner Ablehnung der konventionellen wilhelminischen Männlichkeit Raum zu verschaffen und ein alternatives ‚affektives‘ Männlichkeitskonzept zu entwickeln.

ANN-CHRISTIN BOLAY (Berlin) erblickte im Männerkreis um den Lyriker Stefan George ein historisches Beispiel für einen kollektiven mythisierenden Geniekult um 1900. Ausgangspunkt ihres Vortrags war die zwischen 1903 und 1933 im George-Kreis erschienene Reihe sogenannter Gestalt-Monographien, in denen große historische Persönlichkeiten wie Goethe, Caesar, Nietzsche und Shakespeare porträtiert wurden. Eine Gesamtdeutung dieser Werke ließe darauf schließen, dass die Biographen darin den Versuch einer Selbstgenialisierung unternommen hätten. George selbst habe in dieser Kreisformation eine doppelte Rolle eingenommen: Er sei sowohl Genieverehrer als auch ‚verehrtes Genie‘ gewesen, das sich als kryptographische Referenzfigur in den Gestalt-Monographien widergespiegelt habe. Dies legten sowohl Darstellungen in Friedrich Gundolfs Caesar-Biographie nahe als auch ein Privatphoto, das George während eines Faschingsfests im Caesarkostüm zeigt.

Dass die Photographie in ihrer Konsolidierungsphase eine ideale Grundlage für das Auftauchen eines weiblichen Geniependants bot, führte BETTINA GOCKEL (Zürich) aus, die in ihrem Vortrag auf die Zeitschrift Camera Work um 1900 und an diesem Projekt beteiligte Fotografinnen fokussierte. Gockel hob die Relevanz hervor, die diesem Magazin bei der Durchsetzung der Photographie als Kunstform und der Etablierung eines lang anhaltenden Bündnisses zwischen Photographie und ‚Genialität‘ zukam. In der Programmatik des Herausgebers Alfred Stieglitz sei die Figur des photographischen Genies mit dem weiblichen Geschlecht konvergiert, was eine Stilisierung zur ‚genialen Künstlerin‘ ermöglicht habe. In der anschließenden Diskussion zog Gockel darüber hinaus eine Parallele zwischen der Frühphase der Photographie und den Anfängen der Videokunst in den sechziger Jahren. In ihrer Neuartigkeit hätten diese Medienformen einen Spielraum für das Wirken weiblicher Künstlerinnen geschaffen, der im Rahmen bereits etablierter Medien nur schwer vorstellbar gewesen wäre.

BARBARA WILL (Hanover) wandte sich drei weiblichen Figuren der künstlerisch-literarischen Moderne zu: Gertrude Stein, Claude Cahun und Lou Andreas-Salomé. Dabei untersuchte sie in erster Linie, wie diese drei Akteurinnen auf die Problematik des männlich markierten Geniekonzepts reagierten – von Strategien der Selbstgenialisierung bis hin zu subversivem Desinteresse. Stein habe Männlichkeit als conditio sine qua non des ‚Genies‘ verstanden und aus ihrer verkürzten Rezeption von Weiningers „Geschlecht und Charakter“ (1903) die Idee einer geschlechtlichen Inversion entwickelt, um ihr Modernitätsprojekt mittels einer performativen Männlichkeit zu legitimieren. Cahun dagegen habe den Terminus ‚Genie‘ in einer sowohl politischen als auch künstlerischen Geste verneint und sich gegen die Beschränkung auf eine einzige distinkte Geschlechtsidentität gewehrt. Andreas-Salomé wiederum habe in der weiblichen Postmenopause das Potential zur ‚Genialität‘ des weiblichen Geschlechts gesehen: Erst von reproduktiven Funktionen befreit könne eine Frau das Stadium ‚genialer‘ Schöpfung erreichen.

In seiner Eigenschaft als ‚epistemisches Objekt‘ eröffnete das ‚Genie‘ im Rahmen des Symposiums einen breit gefächerten Wissensraum zum Exzellenz- und Geniekulttopos, der zwischen kultur-, literatur- und kunsthistorischen, postkolonialen, statistischen sowie geschlechter- und wissenschaftsgeschichtlichen Perspektiven oszillierte. Die Vorträge und Diskussionen führten die ebenso lange wie vielschichtige Begriffs- und Kulturgeschichte des ‚Genies‘ vor Augen, wobei zwei Kulminationspunkte hervorgehoben wurden: das ‚Genie‘ als Objekt wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses im Geniekult um 1900 und seine Rolle in der heutigen Gehirn- und Begabtenforschung, im derzeitigen Universitätswesen sowie in modernen Diskursen der Selbstoptimierung. Wenn auch nicht mehr als emphatisches Konzept sei es hier zumindest noch als Referenzfigur spürbar. Hinsichtlich Fragen von Geschlecht, Ressourcenverteilung und Macht-Wissen-Beziehungen sei es nach wie vor kritisch zu hinterfragen.

Konferenzübersicht

Julia Barbara Köhne (Berlin): Welcome und Einführung

Claudia Bruns (Berlin): Grußwort

Renate Kroll (Berlin): Grußwort

Stefan Hornbostel (Berlin): Wissenschaft: zwischen Genie und Kollektiv

Thomas Macho (Wien): Der Glaube an den Doppelgänger. Verborgene Wurzeln der Geniereligiosität

Cornelius Borck (Lübeck): Neuronale Exzellenz: Wie sich die Suche nach der Genialität im Gehirn zur Inselbegabung verflüchtigte

Darrin McMahon (Hanover): Genealogies of Genius: the Divine

Joyce E. Chaplin (Cambridge): Genealogies of Genius: Humans and Other Animals

Julia Barbara Köhne (Berlin): Geniekult in Geisteswissenschaften und Literaturen um 1900

Monika Wulz (Zürich): Von Genies und wissenschaftlicher Massenarbeit: Begabtenförderung, Wissenschaftsorganisation und Ökonomie bei Wilhelm Ostwald

Gabriele Dietze (Berlin): „Heller Wahn“. Echoräume zwischen Genie- und Wahnsinn-Diskursen in Psychiatrie und künstlerischen Avantgarden der Moderne

Barbara Will (Hanover): Can Women Have Genius? Lou-Andreas Salomé, Gertrude Stein, Claude Cahum and Modernist Self-Recognition

Ann-Christin Bolay (Berlin): Geniekult in der Biographik des Stefan George-Kreises

Bettina Gockel (Zürich): Mehr als Genie. Die Erfindung des fotografischen Genies und die Bedeutung der Zeitschrift ‚Camera Work‘

Ulrich Teichler (Kassel): Blüht Exzellenz durch Konzentration? Das erhoffte Genie-Schöpfungspotential der Hochschuldifferenzierung

Gerhard Scharbert (Berlin): genus irritabile vatum – Experiment, Wahn, Genie und die Ästhetik der Modernität